
Nach mehr als 40 Jahren ohne Atomkraft plant Italien den Wiedereinstieg in die Kernenergie. Die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni möchte bis Ende Januar 2025 ein Rahmengesetz verabschieden, das den Weg für eine neue Generation von Kernkraftwerken ebnet. Ziel ist es, die Energieunabhängigkeit Italiens zu stärken und die Stromproduktion zu dekarbonisieren. Doch während die Regierung in Rom große Pläne schmiedet, bleibt die italienische Bevölkerung skeptisch. Nicht zuletzt werfen ungelöste Fragen zur Entsorgung von Atommüll, die hohen Kosten der Technologie und zeitliche Herausforderungen neue Debatten auf.
Ein ambitionierter Plan
Das geplante Gesetz sieht die Gründung einer nationalen Behörde vor, die den Betrieb neuer Atomkraftwerke sowie die Entsorgung radioaktiver Abfälle überwachen soll. Parallel dazu plant die Regierung Anreize für Forschung und Innovation im Bereich der Atomenergie. Öffentlichkeitskampagnen sollen die Bevölkerung für die Vorteile der Kernkraft sensibilisieren. Nach Angaben der Regierung werde es rund zwei Jahre dauern, bis ein rechtlicher Rahmen für den Bau von Reaktoren geschaffen sei. Die ersten Anlagen könnten dann Anfang der 2030er-Jahre ans Netz gehen.

Energieminister Gilberto Pichetto Fratin betonte, dass Atomenergie unverzichtbar sei, um Italiens Energiesicherheit zu gewährleisten: „Ohne Kernkraft ist es unmöglich, die Stromproduktion zu dekarbonisieren.“ Auf dem Weltgipfel für Zukunftsenergien in Abu Dhabi schwärmte Giorgia Meloni zudem von der strategischen Bedeutung der Kernfusion, die in ferner Zukunft „saubere, sichere und unbegrenzte Energie“ liefern könnte. Trotz dieser Vision bleibt die Kernfusion technologisch jedoch noch Jahrzehnte entfernt.
Small Modular Reactors als Schlüsseltechnologie
Im Zentrum der italienischen Pläne stehen sogenannte Small Modular Reactors (SMR). Diese kompakten Reaktoren gelten als sicherer, flexibler und kosteneffizienter als herkömmliche Großkraftwerke. Sie können in Containern transportiert und dezentral an verschiedenen Standorten installiert werden. Industrieminister Adolfo Urso schlug vor, einen nationalen Energiekonzern mit öffentlicher Mehrheit zu gründen, der SMR entwickelt und betreibt. Unternehmen wie Enel, Ansaldo Nucleare und Leonardo könnten hierbei eine Schlüsselrolle spielen.
Allerdings ist die Wirtschaftlichkeit von SMR bisher unklar. Die oft zitierten Kosten von 1–2 Milliarden Euro pro Einheit gelten nur im Fall einer etablierten Serienproduktion, die zunächst Milliarden an Subventionen für Forschung, Entwicklung und den Aufbau der Infrastruktur erfordern würde. Aktuell belaufen sich die Baukosten für einen einzelnen SMR ohne Serienfertigung auf 5–10 Milliarden Euro. Subventionen wären unvermeidlich, um die Technologie wirtschaftlich betreiben zu können.

„Zu spät für den Klimawandel“ – Kritik von Harald Lesch
Der Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Harald Lesch gehört zu den prominenten Kritikern des Wiedereinstiegs in die Kernenergie, insbesondere in Form von SMR. Lesch argumentiert, dass die technologische Entwicklung und der Bau solcher Reaktoren viel zu lange dauern, um noch einen nennenswerten Beitrag zur Eindämmung der Klimakrise zu leisten.
„Die Planungs- und Bauzeit für Atomkraftwerke – ob groß oder klein – beträgt oft 10 bis 15 Jahre. Wir haben diese Zeit nicht. Der Klimawandel erfordert jetzt Lösungen, die sofort umsetzbar sind, wie Solarenergie, Windkraft und Speichertechnologien“, erklärt Lesch in einem seiner Vorträge. Laut ihm lenkt die Diskussion um Atomkraft von dringend notwendigen Investitionen in erneuerbare Energien ab und stellt keine realistische Lösung dar, um die Pariser Klimaziele zu erreichen.
Diese Kritik stellt die italienischen Pläne in ein neues Licht: Selbst wenn SMR in den 2030er-Jahren in Betrieb gehen, könnten sie zu spät kommen, um die Auswirkungen des Klimawandels rechtzeitig zu mildern. Befürworter der Atomkraft entgegnen jedoch, dass sie trotz der langen Vorlaufzeit langfristig eine stabile Energiequelle darstellen könnte, um fossile Brennstoffe zu ersetzen.
Ein Land mit langer Atomgeschichte
Italien hat eine bewegte Geschichte im Umgang mit der Kernenergie. Bis 1990 betrieb das Land vier Kernkraftwerke in Caorso, Trino, Latina und Garigliano. Doch nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl stimmte die italienische Bevölkerung 1987 in einem Referendum für den Ausstieg aus der Atomkraft. Auch ein erneuter Versuch von Silvio Berlusconi, 2009 in die Kernkraft einzusteigen, scheiterte nach der Katastrophe in Fukushima. 2011 sprach sich die Bevölkerung in einem zweiten Referendum mit einer überwältigenden Mehrheit von 94,5 % erneut gegen den Bau neuer Atomkraftwerke aus.
Das Problem der Entsorgung von Atommüll bleibt bis heute ungelöst. Der bestehende radioaktive Abfall wird vorübergehend in Zwischenlagern aufbewahrt, etwa an den ehemaligen Kraftwerksstandorten. Ein Teil der hochradioaktiven Abfälle wird zur Wiederaufbereitung nach Frankreich und Großbritannien exportiert, kehrt jedoch nach Italien zurück. Die italienische Regierung veröffentlichte 2021 eine Liste von 67 potenziellen Standorten für ein nationales Endlager, doch alle betroffenen Regionen lehnten die Pläne ab. Ohne eine dauerhafte Lösung für die Lagerung des Atommülls dürfte es schwierig werden, die Bevölkerung von einem Wiedereinstieg zu überzeugen.
Erneuerbare Energien: Zusammenarbeit mit Albanien
Während die Kernkraft kontrovers bleibt, investiert Italien parallel in erneuerbare Energien. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Kooperation mit dem Nachbarland Albanien. 2023 einigten sich die beiden Länder auf den Bau eines großen Solarkraftwerks in der Region Fier, das zur Deckung des steigenden italienischen Energiebedarfs beitragen soll. Weitere Projekte, wie Offshore-Windparks in der Adria, befinden sich in Planung. Diese Zusammenarbeit zeigt, dass Italien auch auf grüne Technologien setzt, um seine Energieversorgung zu diversifizieren.
Opposition und öffentliche Skepsis
Die geplante Rückkehr zur Atomkraft spaltet das Land. Die Fünf-Sterne-Bewegung und die Grünen kritisieren die Pläne scharf. Die Abgeordneten Ilaria Fontana und Emma Pavanelli (Fünf Sterne) warnen vor den hohen Kosten: „Die Bürger und Unternehmen zahlen schon jetzt hohe Energiepreise. Kernenergie würde diese Kosten noch weiter in die Höhe treiben.“ Die Grünen argumentieren, dass Atomkraft eine Technologie sei, die nie und nirgends ohne staatliche Subventionen betrieben wurde. Zudem werfen sie der Regierung vor, die Risiken der Endlagerung und die Sicherheitsprobleme von Atomkraftwerken zu ignorieren. „In Zeiten geopolitischer Instabilität sind Atomkraftwerke potenzielle Zielscheiben. Ein gezielter Angriff könnte ganze Regionen zerstören“, warnen die Grünen.
Die rechte Regierungspartei Lega hingegen setzt auf ein Referendum, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen. Vizepremier Matteo Salvini argumentiert, dass Italien durch den Verzicht auf Atomkraft einen Wettbewerbsnachteil habe, da Nachbarländer wie Frankreich oder die Schweiz ihre Energie teilweise aus Kernkraftwerken beziehen. Doch ob die italienische Bevölkerung, die sich in der Vergangenheit klar gegen Atomkraft ausgesprochen hat, diesmal anders abstimmen würde, bleibt fraglich.
Eine ungewisse Zukunft
Italien steht an einem Wendepunkt in seiner Energiepolitik. Die Rückkehr zur Kernenergie soll das Land unabhängiger machen und gleichzeitig den Klimazielen dienen. Doch die Pläne der Regierung stehen auf wackeligen Beinen. Die ungelöste Frage der Atommülllagerung, die hohen Kosten und die ablehnende Haltung eines großen Teils der Bevölkerung stellen enorme Herausforderungen dar. Hinzu kommt die zeitliche Komponente: Kritiker wie Harald Lesch warnen, dass der Bau von Kernkraftwerken zu lange dauert, um den Klimawandel rechtzeitig zu adressieren.
Gleichzeitig wird der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben, etwa durch Kooperationen mit Albanien, was die Frage aufwirft, ob die Kernkraft überhaupt notwendig ist. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Italien die gesellschaftlichen und technologischen Hürden überwinden kann – oder ob der Wiedereinstieg in die Atomkraft erneut an der Realität scheitert.
Für Frankreich erweist sich der Bau neuer Atomkraftwerke als Milliarden-Fiasko wie der Focus recherchierte.
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